Der Jüngere kam heute mit der Info zum Abendessen, dass er nicht lesen kann. Auf die besorgte Frage, warum das so sei, erzählte er uns davon, dass er offenbar nicht schnell genug sei, um den Lesetest erfolgreich zu bestehen. Was er denn da machen musste, konnte er nicht so recht beantworten - nur eine Frage hatte er so ungefähr in Erinnerung. Die lautete seinen Angaben nach: "Können Kirschen sprechen?" Er hatte zwei Antwortmöglichkeiten zur Auswahl, nämlich ja oder nein. Irgendwie wirkte er verwirrt.
Der Große hatte neulich ein schlechtes Ergebnis beim Wiener Lesetest, seine Lesekompetenz ist demnach unterdurchschnittlich. Das veranlasste sogar seinen Klassenlehrer auf die Rückseite des Ergebnisblattes einen Kommentar zu verfassen, der da etwa so lautete: "Ich weiß, dass Aki snnerfassend lesen kann, er kommt aber mit dem Setting des Tests nicht zurecht." Also: Wir Rabeneltern haben einfach zu wenig mit ihm geübt, wo es doch im Internet jede Menge Möglichkeiten gibt, das eigene Kind auf ein erfolgreiches Absolvieren hinzutrimmen.
Nun ist uns Trimmen einfach so fern wie nur was. Wir erfreuen uns daran, dass beide Söhne Abend für Abend vor dem Schlafengehen und in den Mittagspausen am Wochenende ein Buch nach dem anderen verschlingen, wir erfreuen uns weiters an den literarischen Gesprächen mit den beiden beim Abendessen - und wir sind stolz, dass sie ihrem jüngsten Bruder hervorragend vorlesen können.
Ein ähnliches Phänomen beobachte ich auch bei Deutsch-Kursen. In meinem ehemaligen Aufgabengebiet als Deutsch-Unterrichtender in einem Pflichtschulabschlusslehrgang kamen doe TeilnehmerInnen mit ÖSD-Zertifikaten auf dem Niveau A2+ bis B1. Dies war auch die Voraussetzung für die Aufnahmen in den Kurs. Beim Arbeiten mit ihnen stellte sich heraus, dass die meisten gute Fertigkeiten im Hinblick auf die beim Test erwarteten Leistungen hatten, ihre Sprachkompetenz im Hinblick auf die Unterrichtssprache aber war erschreckend niedrig.
In beiden Fällen zeigt sich meines Erachtens die Differenz zwischen den TrainierInnen und denen, die eine reale Kompetenz haben, manchmal fällt dies sicher auch zusammen. Meine Skepsis bezüglich all dieser Verfahren bleibt jedenfalls bis auf weiteres bestehen. Und mein verdacht erhärtet sich, dass es letztlich nicht um Bildung und ihre Standards geht, sondern um Funktionieren-Lernen. So werden wir die Herausforderungen der Menschheit in der Gegenwart und Zukunft sicher niemals meistern. Und es wird einmal mehr klar, warum die meisten Genies absolute Schulversager waren.